2008 - 2018
ein Artikel von Rosemarie Zöller
Eine Schule neu aufzubauen ist eine spannende, oft aufregende, nicht selten schwierige aber immer schöne Aufgabe. Nach 10 Jahren darf man deshalb schon einmal einen Blick zurück wagen. Michael H. Kuhn, Schulleiter der IGS Gerhard Ertl von Anbeginn der Gründung, erinnert sich besonders an ein ganz bestimmtes Ereignis: „Als wir 2017 die ersten Abiturienten feierlich verabschiedet haben, die hier einmal als aufgeregte Fünftklässler mit großen Ranzen und noch größeren Augen angefangen haben, war das schon ein sehr bewegender Moment.“
Entwicklung zum wichtigen Standortfaktor
Dabei war die Gründung einer Integrierten Gesamtschule, welche die vorher bestehende Regionale Schule ablösen sollte, auch für Sprendlingen ein echter Pluspunkt. Denn die Verantwortlichen in den Kommunen wissen, dass die Ausstattung einer Gemeinde mit einem attraktiven schulischen Angebot ein bedeutender Standortfaktor für die Entwicklung sein kann.
Alles begann im August 2008 mit überschaubaren 111 Schülern und einem noch kleinen Team höchst engagierter Pädagogen, welche die vor ihnen liegende Aufgabe mit viel Enthusiasmus angingen. Heute (2018) besuchen rund 750 Schülerinnen und Schüler, die von einem fachlich qualifizierten und breit aufgestellten Kollegium von 75 Lehrkräften unterrichtet werden. Die Schüler können an der IGS Gerhard Ertl - von der Berufsreife bis zur Allgemeinen Hochschulreife - alle Bildungsabschlüsse einer allgemeinbildenden Schule erwerben.
Möglich gemacht wurde diese Erfolgsstory durch die gute und stets kooperative Zusammenarbeit vieler Menschen. Angefangen mit den Entscheidungsträgern im Landkreis Mainz-Bingen als dem Schulträger, der mit bedeutendem finanziellen Engagement die Rahmenbedingungen für die Schulentwicklung ermöglichte. Nicht zu vergessen die positive Einstellung der Gemeindeverantwortlichen in Sprendlingen, der umliegenden Grundschulen, Lehrer, Eltern und des engagierten Fördervereins, dem ebenfalls das Wohl von Schule und Schülern am Herzen liegt.
Ein Nobelpreisträger besucht „seine Schule“
Und auch der Namensgeber und das große Vorbild der Schule, Professor Dr. Gerhard Ertl, begleitete in den vergangenen zehn Jahren „seine“ Schule in Sprendlingen mit persönlichen Besuchen, ganz konkret mit finanziellen Zuwendungen und freute sich auch über Sprendlinger Schüler, die ihn anlässlich einer Klassenfahrt in seinem Berliner Büro besuchten.
Sein Name und Vorbild können Ansporn und Verpflichtung auch für die Schüler heute sein: Die „Gerhard-Ertl-Medaille für herausragende schulische Leistungen in den Naturwissenschaften“, die Professor Ertl stiftete, ist eine besondere Auszeichnung, welche die Schule einmal im Jahr an Schüler mit herausragenden Leistungen vergibt und die mit besonderem Stolz entgegen genommen wird.
Professor Ertl ist von Haus aus Physiker und wurde 2007 für seine Studien von chemischen Verfahren auf festen Oberflächen mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Das schwedische Nobelkomitee würdigte damit die Pionierleistung von Gerhard Ertl, der als einer der Ersten erkannte, welches Potenzial in der Erforschung von Oberflächen steckt.
Naturwissenschaften im Fokus
Dass die IGS Gerhard Ertl eine Schule mit starker naturwissenschaftlicher Ausrichtung ist, zieht sich auch deshalb wie ein roter Faden durch Schulkonzept und Alltag der Schüler. Schon die Kleinsten beginnen hier mit dem naturwissenschaftlichen Experimentieren.
Dieses kontinuierliche naturwissenschaftliche Experimentieren – genannt NATEX - für alle Jahrgangsstufen ist eine Besonderheit der Sprendlinger Schule. Kreativität und Genauigkeit sind dabei gleichermaßen gefragt, denn zu den Aufgaben gehörte es, nicht nur eigene Experimente zu entwickeln und durchzuführen, sondern die Versuche auch schriftlich und auf wissenschaftliche Art und Weise zu dokumentieren.
Die Teilnahme am experimentellen Wettbewerb des Landes Rheinland-Pfalz ist in jedem Jahr wieder herausfordernd und motivierend für die Sprendlinger Nachwuchsforscher. Erfolge in vielen anderen Wettbewerben - sei es beispielsweise der „Newcomer-Preis bei Jugend Forscht“, im Landeswettbewerb Mathematik, im internationalem Mathematikwettbewerb Bolyai und vielen mehr – motivieren Schüler wie Lehrer zum Weitermachen. Den Lehrern ist es dabei ein großes Anliegen, auch und gerade bei Mädchen die Freude an den MINT-Fächern zu wecken und zu fördern.
Zusätzlich zu den klassischen Fächern der Naturwissenschaften wie Mathematik, Informatik, Chemie, Physik und Biologie können Schüler aber auch mit dem Wahlpflichtfach „ Ökologie und Naturwissenschaften“ einen weiteren naturwissenschaftlichen Schwerpunkt in ihrer Schullaufbahn setzen.
An der IGS Gerhard Ertl geht man dabei durchaus auch einmal unkonventionell an Themen der Naturwissenschaften heran. Ausgerüstet mit Höhen- und Beschleunigungsmesser sowie GPS-Apps auf Smartphone und Tablet besuchen Schüler des Leistungs- und Grundkurses Physik zum Beispiel den Europapark Rust, um dort die Kräfte der Gravitation zu erkunden. Die gewonnenen Daten aus einer Achterbahnfahrt werden dann im Physikunterricht ausgewertet und nach kinematischen und dynamischen Gesichtspunkten analysiert.
Ganz vorne beim digitalen Lernen
Durchaus als Vorreiter digitalen Lernens kann man die IGS Gerhard Ertl bezeichnen, welche die erste Schule in Rheinland- Pfalz ist, die alle Schülerinnen und Schüler – und natürlich auch die Lehrer – mit modernen Tablet-PCs ausgestattet hat.
Digitale Bildung ist eine der Schlüsselkompetenzen, die nicht nur an die aktuelle Lebenswelt von Schülerinnen und Schüler anknüpft, sondern auch einen wichtigen Grundstein für das spätere Berufsleben legt. Damit sieht sich die Schule im Einklang mit vielen Eltern, die einen großen Nachholbedarf bei der Ausrüstung von Schulen mit digitalen Medien und deren Anwendung sehen.
Mit den Tablets werden viele Arbeitsschritte im Unterricht nicht nur einfacher, sondern können auch genauer erledigt werden: Beispielsweise verläuft das Dokumentieren von Experimenten mit der Tablet-Kamera und der Videoschnitt-Software sehr einfach und schnell; das genaue Beobachten wird so zusätzlich geschult. Die Präsentation eigener Ergebnisse oder Arbeiten kann multimedial, vernetzt und interaktiv gestaltet werden, so dass ein Vielfaches an Möglichkeiten entsteht.
Individuell durch Differenzierung
Am Ortsrand von Sprendlingen gelegen, verfügt die IGS Gerhard Ertl heute über mehrere Gebäude, in denen nicht nur Klassenzimmer, sondern auch gut ausgestattete Fachräume untergebracht sind. Dazu gehören selbstverständlich moderne Chemie- Physik- und Biologieräume ebenso wie Werkräume für die technisch-handwerkliche Ausbildung, eine neue Lehrküche, Informatikräume, Musik- und Kunsträume, Bücherei, Mensa, Aufenthaltsräume und viele mehr, die fachliches Arbeiten in allen Stadien der Schullaufbahn möglich machen. Um dies zu realisieren, wurden bestehende Gebäude teilweise umgebaut und ein Erweiterungsbau fertig gestellt, der zum Schuljahresbeginn 2009 von den Schülern bezogen werden konnte.
Gerade auch die pädagogische Differenzierung, welche fundamental zum Schulkonzept einer IGS gehört, bedingte bei der Erweiterung den Bau zusätzlicher Räume. In den so genannten „Differenzierungsräumen“, die für jede Jahrgangsstufe doppelt vorhanden sind, können Schüler in kleinere Lerngruppen aufgeteilt und noch individueller unterrichtet und gefördert werden. Dazu unterrichten Lehrer in den Hauptfächern häufig im Zweierteam. Offener Unterricht, Gruppenarbeiten, kleinere Projekte oder Stationsarbeiten können auf diese Weise verwirklicht werden und konzentriertes Arbeiten wird erleichtert.
Gemeinsam lernen in der Schwerpunktschule
An der IGS Gerhard Ertl wird der Förderung von Begabungen und Talenten genauso Beachtung geschenkt wie der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, die bei Leistungsdefiziten gestärkt werden müssen. Als Schwerpunktschule ist die Schule für alle Kinder da und berücksichtigt ihre Vielfalt von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Fachlehrer und Förderschullehrkräfte sowie pädagogische Fachkräfte planen und gestalten gemeinsam im Team den Unterricht und sind verantwortlich für die Lernenden ihrer Klasse.
Wichtig für das Entstehen von Gemeinsamkeit und gutem Austausch ist, dass die Schüler einer Jahrgangsstufe lange im Klassenverband zusammenbleiben. Das zur Jahrgangsstufe gehörige Lehrerteam befindet sich gleichfalls in der Nähe, so dass die Lehrerinnen und Lehrer für die Schüler fast immer erreichbar sind und schnelle Problemlösungen möglich sind. Ein Tutorenteam ist in jeder Klasse Ansprechpartner für die Lernenden, Eltern und Betreuungspersonen.
Individuelle Förderung in der Ganztagsschule
Die IGS Gerhard Ertl nimmt auch ihre Aufgabe als Ganztagsschule sehr ernst und setzt ihr Ganztagsschulkonzept deshalb in rhythmisierten Klassen um. Das ermöglicht es, Phasen des Unterrichts, der Freizeitgestaltung, der Wiederholung und Vertiefung, aber auch des Experimentierens oder des Förderns auf die gesamte Schulzeit zu verteilen. Die Stunden zum „Trainieren-Üben-Vertiefen“ (TÜV) werden von Tutoren betreut; in Deutsch, Mathematik und Englisch unterstützen die jeweiligen Fachlehrer die Schülerinnen und Schüler.
Die Ganztagsschüler besuchen zweimal in der Woche nachmittags eine Arbeitsgemeinschaft (AG), die sie zu Schuljahresbeginn wählen und die mindestens für ein halbes Jahr bestehen bleibt. Hierbei steht den Schülern ein breites und vielfältiges Angebot zur Auswahl. Sie können sich sportlich betätigen, kreativ sein oder in den naturwissenschaftlichen Bereich gehen und vieles anderes mehr.
In der modernen Mensa bereitet ein Team frisches und schmackhaftes Mittagessen und in der Mittagspause sorgen zusätzliche Aufenthaltsräume dafür, dass neben dem Umhertollen auf dem Schulhof auch andere Aktivitäten möglich sind: Lernen im Stillarbeitsraum, Bücher lesen in der Bibliothek oder sportliches Spiel beim Tischkickern oder an der Tischtennisplatte.
Außerhalb der Gebäude lockt zusätzlich ein Niedrigseilgarten, der während der Pausen oder nachmittags regen Zuspruch findet. Die Kletterkonstruktion regt dazu an, gemeinsam Strategien und Fantasien zu entwickeln, wie der Parcours überquert werden kann.
Vorbereitung und Anknüpfung an die Berufswelt
Ein solches Szenario darf nicht vorkommen: Die Schule ist geschafft, der Abschluss in der Tasche - und der Schüler ist planlos: „Was soll ich jetzt anfangen, welche Ausbildung, welches Studium passt überhaupt zu mir oder bietet gute Chancen?“ Um dies zu vermeiden, zieht sich das Thema Berufsorientierung wie ein roter Faden durch alle Klassenstufen der IGS Gerhard Ertl.
Das konkrete Hineinschnuppern in das Berufsleben startet an der IGS Gerhard Ertl deshalb früh - bereits in Klassenstufe 7 - und wird regelmäßig fortgesetzt. Zusätzlich zu den berufsorientierten Aufgaben im Unterricht selbst– wie das Erstellen eines Lebenslaufes und einer Bewerbungsmappe – werden verschiedene begleitete Betriebspraktika durchgeführt, die auch intensiv vor- und nachbereitet werden.
Regelmäßig werden die Schüler in Kontakt mit außerschulischen Stellen gebracht, beispielsweise dem Berufsinformationszentrum, der Handwerkskammer oder interessierten Unternehmen, die Informationen vermitteln, Einzelberatung durchführen oder auch einmal das Personalauswahlverfahren im Bewerbungsprozess (Assessment Centre) simulieren und trainieren.
Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage
Mit ihrer entschiedenen Absage an jegliche Art von Diskriminierung, Rassismus oder Mobbing wurde die IGS Gerhard Ertl 2013 zur „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ ernannt und gehört seither zu einem europaweiten Netzwerk.
Der Auszeichnung vorausgegangen war eine große Unterschriftenaktion von Schülern, Lehrern und Mitarbeitern, in der sie die Verpflichtung eingegangen waren, sich gegen jede Form von Diskriminierung an der IGS Gerhard Ertl aktiv einzusetzen, bei Konflikten einzugreifen aber auch regelmäßig Aktionen zu diesem Thema durchzuführen. Sie erinnern alle Mitglieder der Schulgemeinschaft daran, dass Toleranz und ein faires Miteinander täglich und von jedem einzelnen gelebt werden muss.
Vertrauen in die Zukunft
Wir sind stolz darauf, dass die Eltern, die uns vor 10 Jahren ihr Vertrauen geschenkt und ihre Kinder in der damals neuen und unbekannten Schule angemeldet haben, nicht enttäuscht wurden“, fasste Schulleiter Kuhn am Ende der ersten Abiturfeier zusammen und ist überzeugt, dass er diesen Satz so auch beim nächsten Jubiläum der IGS Gerhard Ertl wieder aussprechen kann.